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Der »artes liberales — Buchladen« in Heidelberg

Mit dem »artes liberales – Buchladen« wurde inmitten der Heidelberger Altstadt ein Ort des Lesens und Schreibens, des Denkens und des wechselseitigen Austauschs geschaffen. Clemens, wie kamst Du auf die Idee, den Laden zu gründen? Und warum in Heidelberg?

Clemens Bellut: 2012 kam ich von der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), wo ich mit Ruedi Baur und Stefanie-Vera Baur das Institut für Designforschung, "Design2context", leitete, eher zufällig und sozusagen ganz nur nach Herzenslust hierher. Da hatte ich noch ganz andere Flausen im Kopf als buchhändlerische. Ich kannte Buchläden bis dahin nur von der anderen Seite des Ladentisches her - das aber um so ausführlicher.

Ich hatte das zufällige Glück, fast ohne irgendeine Suche eine wahrlich traumschöne Wohnung am Kornmarkt beziehen zu dürfen - was ich damals eher noch für eine kostenintensive Urlaubssituation hielt. Als es aber um die Frage ging, welche Einrichtungen künftig in "unserem" schönen Haus in die noch unvermieteten Ladengeschäfte einziehen würden, traf sich diese gelinde Sorge mit der entbehrenden ersten Erfahrung, daß ich eine Art von Buchladen, wie ich ihn in allen "meinen Städten" (Bonn, Tübingen, Frankfurt, Zürich) gefunden und seither unbedacht für selbstverständlich gehalten hatte, in Heidelberg nicht mehr finden konnte. Und so bin ich auf die verwegene Idee verfallen, selbst als völlig unausgebildeter und unkaufmännischer, alternder Zeitgenosse für Abhilfe zu sorgen. Den letzten Anstoß hat dann vielleicht noch mein Freund und Designer Laurenz Micke gegeben, der die entscheidende gestalterische Idee für ein Bücherregal in dem extrem kleinen Ladengeschäft mit 20 qm Gesamtfläche aufbrachte. Denn der entscheidende Punkt war ja durchaus nicht, mit primär kaufmännischen Anliegen einen Buchladen zu betreiben: Vielmehr ging es darum, einen Ort zu schaffen, an dem Bücher, die heutigentags kaum mehr im Präsenzbestand der meisten Buchhandlungen vorfindlich sind, zunächst einfach nur zu zeigen, daß es sie überhaupt gibt - auch im Zeitalter von normierenden Bestseller-Listen, von Versandwarenhäusern und von digitalen Dokumentproduktionen. Man sollte solche Bücher sehen können, in die Hand nehmen können, in einer förderlichen Umgebung belesen oder durchlesen können ... und einfach das tun können, was ich in den Buchhandlungen des alten "Bouvier" in Bonn, dem alten "Gastl" in Tübingen an der Stiftskirche, der Karl Marx-Buchhandlung in Frankfurt und dem "Calligramme" in Zürich meinerseits bis dahin getan hatte. Ein Ort, um sich geruhsam niederzulassen, um in den stabilen Regalen auf Entdeckungsreise herumzuklettern, sich in Ruhe gelassen zu sehen oder in ein unentrinnbares Gespräch gerissen zu fühlen. ... Für mich gab es früher in "meinen" Städten sozusagen außerhalb meiner Wohnung jeweils noch drei gründlich ausgesuchte exterritoriale "Zimmer": das Café, das kleine Lokal zum Pfeiferauchen und Weintrinken und den Buchladen. Das mit dem Café hier hat sich schnell mit der "Café Bar Grano" meines neuen Freundes Ertjon Doci ganz von selbst und in schönster Kornmarkt-Nachbarschaft von selbst ergeben, das mit dem Lokal ebenso gleich mit der großartigen "Orange"-Bar in der fußläufigen Ingrimstraße, dem vermutlich kosmopolitischsten und zugleich warmherzigsten Ort der ganzen Stadt. Das mit dem Buchladen dachte ich dann eben selbst versuchen zu müssen. - Ein weiterer Entstehungsgrund dieser Idee war, daß ich seit sehr vielen Jahren an der Vorstellung geknabbert habe, einmal in meinem Leben etwas wie ein kleines philosophisches Institut des Studierens und Nachdenkens und Gesprächs zu gründen, in einer Praxis, die so nicht mehr selbstverständlich in anderen Institutionen unserer Tage vorfindlich sein kann. Und so hat diese alte Vorstellung auch eine gewisse Hebammenrolle übernommen bei der Geburt des Buchladens, weil ich mich von der vagen Erwartung leiten ließ, daß ein solcher philosohischer Buchladen womöglich etwa auch eine Art von Keimzelle für dieses Institut einmal werden könnte. - Und so kam es dann ja auch, weil so bemerkenswert erfreuliche, kluge, neugierige, intensive Menschen sich im Umkreis des Ladens eineinfinden, die mit mir zusammen diese Instituts-Idee mit in die Welt bringen konnten in Gestalt der "artes liberales - universitas" (netterweise direkt neben der besagten "Orange"-Bar in der Ingrimstraße).

Frei nach Kleist gefragt: „Nirgends kann man die Kultur einer Stadt und den Geist ihres herrschenden Geschmacks schneller und doch zugleich richtiger kennen lernen als in den Lesebibliotheken“. Wer sind die Menschen, die in Deinen Laden kommen? Was treibt sie an? Was suchen sie? Sind sie typische Vertreter des modernen „homo heidelbergensis"?

Clemens Bellut: Nun, zur Beantwortung müßte ich mich wohl erst mal ins Paläontologische Institut begeben, um mehr über den homo heidelbergiensis zu erfahren ... Ich stelle mir darunter immer eine gewisse altersmäßig fortgeschrittene Erbaulichkeit vor, die ihre lang eingeführten Orte und städtischen Begängnisse hat. Nein, von dieser Art, wenn es sie denn gibt, kommt kaum etwas weder in den "artes liberales - Buchladen" noch in die "artes liberales - universitas". Zunächst war es einfach nur so, daß die Besucher der schon zuvor befreundeten "Orange"-Bar den weitaus größten Teil der Besucher ausgemacht haben. Ansonsten dann diejenigen Studenten und Wissenschaftlerinnen, die, wie zuletzt noch ich selbst, einen so gearteten Buchladen in Heidelberg vermißt haben - größtenteils aus den Germanistischen, Slavischen, Romanischen, Theologischen, Philosophischen, Historischen und Ethnologischen Seminaren der Universität Heidelberg. Vom Erstsemester bis zur emeritierten Professorin. Spätestens seit der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchhandlungspreis 2015 und 2016 gibt es aber auch eine große Zunahme des sozusagen städtisch-zivilbürgerlichen Publikums. Und darüber hinaus sind es Reisende aus Deutschland und halb Europa, die entweder als Wissenschaftler zu Tagungen oder Bibliotheksrecherchen kommen oder Menschen, die mehr oder weniger frequent Heidelberg immer wieder besuchen: weswegen es eine schöne Freude an diesem Buchladen gibt, die bis nach Krakau oder Barcelona oder Paris oder Berlin und Zürich reichen kann.

Durch Deinen Buchladen kommst du in Kontakt mit vielen verschiedenen Menschen, bekommst Einblicke in deren persönliche Lebensgeschichten, hörst Schicksalhaftes und Hoffnungsvolles. Welche Begegnung ist Dir in besonderer Erinnerung geblieben?

Clemens Bellut: Nun, dazu könnte ich eigentlich und sinnvoll nur in Gestalt eines eigenen Buchs anworten - und das ist wirklich auch einer eingehenden Überlegung wert. Aber: natürlich gibt es diese Geschichten und Begegnungen und auch tief und weit reichende Eröffnungen in Lebensgeschichten und Zeitgeschichten. Da kann es dem Buchhändler gelegentlich gehen wie dem Wirt in der Eckkneipe. Nun mag ich vielleicht einmal, weil es auch fast ein kleines Denkmal sein soll, dem in diesem Jahr plötzlich verstorbenen Mann eine kleine hommage hier widmen, der vielen in der Stadt als der Flaschensammler Tom bekannt sein wird, der im Rollstuhl sitzend, immer rückwärts sich mit den Füßen abstoßend fuhr und sich mit Leergut versah, soweit er dessen habhaft werden konnte. Eines Tages kam er in meinen Laden, brummelig, mit Kopfhörer auf den Ohren, den Rollstuhl draußen vor der Türe, und fragte mich schwerverständlich, ob ich ihm wohl ein Buch besorgen könne - und zwar den Roman "Papillon". Das war mir nun eine fast enttäuschend einfache Aufgabe - aber da belehrte er mich doch schnell eines Besseren mit der Anforderung, daß es unbedingt eine Ausgabe in rumänischer Sprache sein müsse. Dazu hat er mir die Geschichte erzählt, daß er und seine Frau aus Rumänien hergekommen seien, aber dort in Rumänien noch den Film "Papillon" mit der allergrößten und einander eng verbindenden Begeisterung gesehen hätten, dessen Roman er damals noch einige Male auf Rumänisch und späterhin hier dann ganze sieben Male auf Deutsch gelesen habe. Da aber seine Frau des Lesens in der deutschen Sprache nicht mächtig sei, sei er nun auf der Suche nach einer rumänischen Ausgabe, weil es ihn so tief bewegen würde, sich das Gesicht seiner Frau vorzustellen, wenn sie plötzlich aus seiner Hand das geliebte Buch in rumänischer Sprache überreicht finden und das Filmerlebnis zum erstenmal nach 30 langen Jahren erneuern könnte. - Ich habe mich mit allen meinen rumänischen Freunden in Verbindung gebracht. Schließlich hat ein deutscher Schauspieler aus Temeswar dort eine einfache Ausgabe für ein fast nichtiges Geld erstanden. Das Buch schickte er mir und ich überreichte es dann Tom - der es mit pathetischer Geste an sein Herz drückte, wie meine katholische Großmutter das Gebetbuch am Heiligen Ostersonntag, wo mir gleich durch den Sinn schoß, daß ich zum erstenmal überhaupt etwas anderes als eine Flasche in seiner Hand sehe, und er schaute mich mit tränenvollen Augen an und verlieh mir den Großtitel seines "besten Freundes". - Solche Begegnungen wie die mit einer blinden Frau, die ihre Bücher im Laden nach dem Vorleseton auswählt, oder mit dem wunderbaren Stadtstreicher, der hier gelegentlich ein Reclam-Büchlein wie das Gilgamesch-Epos oder Luthers 95 Thesen oder gar Hegels Phänomenologie ersteht, um diese Bücher gleich schon an der nächsten Ecke halb durchgearbeitet zu haben, oder mit der alten kleinen Frau, die voriges Jahr am 24. Dezember an einem extrem unwirtlichen Tag die Bücher meines Ladens als das Himmelsgeschenk ihres diesjährigen weihnachtlichen Gabentisches bezeichnete und mir zum Dank am Ende meinen Kopf in beiden Händen haltend einen weihnachtlichen Freudenschmatzer auf die Stirn drückte.

Worin siehst Du den „Mehrwert“ des »artes liberales« Buchladens für Heidelberg und seine Bürger und Besucher. Was könnte die Leute dazu veranlassen, Dein Projekt zu unterstützen?

Clemens Bellut: Wie man weiß, gibt es in Heidelberg einige sehr gute Buchhandlungen. Diese und alle anderen, eingeschlossen die internet-Versandhäuser, sind gesetzlich an die verlegerische Buchpreis-Setzung gebunden. D.h. man erhält das gleiche Buch in der gleichen Ausgabe - sofern noch lieferbar - unterschiedslos zum selben Preis, egal wo und wann. Als Bücher-Bestell- und Abholstation sind sie also alle untereinander komplett gleich und austauschbar. Unterschiede liegen in der Auswahl der präsentierten Bücher, in der Lage des Ladens, in dem Raumcharakter, in der Nachbarschaft, in der Gesprächsart, in der Art von Menschen, denen man dort begegnen kann ... Jedenfalls würde ich nicht von MehrWERT sprechen, vielmehr von der Eigenart dieses Ortes und seines Entstehungsgrundes. Er wird erheblich aufgewertet durch diejenigen, die mit ihren besonderen Kenntnissen im Buchwesen, mit ihren eigenen schriftstellerischen und wissenschaftlichen Beiträgen vielleicht darin präsent sind, die mit ihrer Aufmerksamkeit für einen solchen Laden und mit ihrer Gesprächsintensität über alles Philosophische, Philologische, Dichterische und Politische, die zwischen diesen Buchrücken und den Schriftwerken sprießen kann, aufwecken, lebendig machen und geradezu aufladen. - Zusammen mit der nachbarlichen "Café Bar Grano" gibt der "artes liberales - Buchladen" eine sehr charakteristische Prägung für den städtischen Charakter des altstädtischen Kornmarkts, eine sehr kleinräumige und doch sehr starke und lebendige Aufwertung der beiden Häuser und dieses Platzes. - Durch das gemeinnützige Partnerinstitut werden die einschlägig wichtigsten und die mutigsten neuen Verleger in die Stadt geholt, zu öffentlichen Gesprächen über die verlegerische Konstitution des Öffentlichen. - Zusammen sind die beiden Einrichtungen der "artes liberales" eine Eröffnung für die Stadt und die Stadtöffentlichkeit, in den bürgerlichen und studentischen, den inwärtigen und den auswärtigen Anteilen, die Lebendigkeit und das geistige ud gesellschaftspolitische Erfordernis fortzuleben und weiterzuspinnen und sich nicht an vorgefertigten und schablonenhaften Denk- und Sprachformeln zu verkleben. - Das Ansinnen ist und bleibt weiterhin, den "artes liberales - Buchladen" unbedingt auch in seiner wirtschaftlichen Wirklichkeit als ein gelingendes Unternehmen zeigen zu können. Und der bisherige und auch der wirtschaftliche Erfolg geben Rückendeckung genug für den Mut, die üblichen Schwierigkeiten von Finanzierungslücken in der Entwicklung von jungen Unternehmen überwinden zu wollen und zu können - im Bewußtsein, daß manche Ressourcen, die heute nicht mehr aus der eigenen privaten Hand zur Verfügung stehen können, vielleicht noch durch die Mitwirkung vieler Menschen gewonnen werden könnten, sofern sie sich dem Anliegen verbinden mögen, eine solche Einrichtung in Heidelberg für erforderlich zu halten und nach ihren Möglichkeiten für eine Zwischenzeit sichern zu helfen.

Hier geht's direkt zur Crowdfunding-Kampagne für "artes liberales": https://sponsort.de/projekt/46

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